Aslı Erdoğan – Eine Schriftstellerin verschwindet.

Ein neuer Brief:     9. Eylül – Bakırköy 




Aus dem Gefängnis: "Vergesst mich nicht und meine Bücher" (4.9.16) [3]
Aslı Erdoğan wurde mittlerweile ins Bakırköy-Gefängnis überführt. (20.8.16)
İrfan Aktan: "Bu ülke bazı insanları haketmiyor."
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Stell Dir vor, es ist Nacht, und Du wachst auf, weil es klingelt. Verschlafen öffnest Du die Tür und – man erklärt Dir, Du seiest nun festgenommen.
Am nächsten Tag bemerken es dann auch die Anderen: Du bist weg. Einfach so. Geklaut. Mitten in der Nacht. Und niemand weiss, wo Du bist.
So ist es Aslı Erdoğan am Mittwoch den 17. August 2016 ergangen. Und nicht zum ersten Mal.



Während der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2008 merkte es man ihr noch an, dass sie während einer solchen polizeilichen Festnahme so schwere Verletzungen erlitten hatte, dass sie bis zum heutigen Tag auf Medikamente angewiesen ist. [1] Schlafen konnte sie lange Zeit nicht, berichte sie später einer Journalistin der Neuen Züricher Zeitung, als sie 2012 für ein Jahr als Asylschreiberin in Graz weilte: "Das hatte ich aus der Türkei mitgebracht, die Furcht, nachts verhaftet zu werden". [2] Offensichtlich weiss sie sehr genau, wovor sie solche Angst hat. Sie fühle sich wie eine Ertrinkende, die wieder auftaucht, beschrieb sie ihre Situation, dann wenn sie über Menschen schreibe, die in der Türkei im Gefängnis einsitzen, denn da schreibe sie in gewissem Sinn auch über ihr eigenes Gefangensein.
Diese Erfahrung scheint so tief zu sitzen, dass sie sie herausschreiben musste, denn eigentlich ist Aslı Erdoğan Physikerin. Von 1991 bis 1993 arbeitete sie am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung in der Schweiz. Schon damals schrieb sie literarische Texte und gab letztlich ihre wissenschaftliche Karriere für das Schreiben auf.

1990 gewann Aslı Erdoğan  den Yunus-Nadi-Literaturpreis, der seit dem Jahr 1946 in der Türkei vergeben wird.
1994 erschien ihr erster Roman Kabuk Adam.
Einige ihrer Schriften sind in deutscher Sprache erschienen, so ihr Roman Die Stadt mit der roten Pelerine. Nach einem Aufenthalt in Rio de Janeiro kehrte sie in die Türkei zurück und lebt seither als freie Schriftstellerin in Istanbul.
1997 gewann sie bei der Deutschen Welle mit ihrer Kurzgeschichte Holzvögel, den Autorenwettbewerb.
2010 erhielt Aslı Erdoğan für ihren Roman Taş Bina ve Diğerleri den Sait-Faik-Preis, der seit dem Jahr 1955 verliehen wird  und als einer der bedeutendsten Literaturpreise der Türkei gilt. In ihren Werken beschreibt sie Fremdes und Anderes vor dem Hintergrund der türkischen Gesellschaft und den globalen Entwicklungen und versucht den Erfahrungen von Leid, Einsamkeit und Gewalt etwas Anderes entgegen zu setzen.

Warum wird eine solche Romanschreiberin so einfach mal festgenommen? Weil sie Mitglied beim P.E.N ist und dort im Komitee "Schriftsteller in Haft", oder bei der türkischen Schriftstellervereinigung, oder Mitglied des Kunst- und Literaturforums von Diyarbakır? Oder sind es ihre Themen, mit denen sie sich beschäftigt? Denn trotz aller Repressalien, denen sie immer wieder ausgesetzt ist, engagiert sie sich bis heute für politisch Inhaftierte und für Frauenrechte in der Türkei. Sie warnt vor Präsident Erdoğans wachsendem Autokratismus und prangert die staatlichen Repressionen gegen Kurden an. Sie ist eine der ersten, die sich öffentlich bei den Armeniern für das erlittene Unrecht entschuldigt. Sie schrieb in der Zeitung radikal und war im Beirat der Zeitung Özgür Gündem, in der auch ihre Kolumnen erschienen. Aber all dies ist gegenwärtig Vergangenheit, denn Radikal musste ihr Erscheinen einstellen und Özgür Gündem wurde auf gerichtliche Anordnung am 16.8.2016 "geschlossen".

Aslı Erdoğan, offensichtlich keine "Gülen-Anhängerin", sondern eine Oppositionelle mit scharfem Verstand und spitzer Feder. Was ist los in diesem Staat, wenn man dort glaubt, eine solche Frau verhaften zu müssen?

Aslı Erdoğan

Minen Krause: "Read Aslı Erdoğan not because she is in prison, but because she is an extraordinary writer" (Paris, 13.12.2016)

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1 Asli Erdogan spricht aus, worüber andere schweigen.
2 Zu nah am Feuer. 
3 Vergesst mich nicht und meine Bücher. Es sind meine Kinder.