Istanbul Geschichten – Mehmet Bey aus Beykoz und 'sein' Galatasaray


Seit 30 Jahren arbeitet er hier in Beykoz, gleich neben der Moschee. Eigentlich sei er ja mehr ein Fan von Galatasaray als ein Schuhputzer, erzählt er und zeigt stolz auf eine Papptafel mit den Fotos seiner Idole. Und dann putzt er sie, meine Schuhe. Er putzt, und er redet. Ich sitze da, höre zu, verstehe aber nur wenig, denn er redet schnell und etwas undeutlich. Und so erzählt er mir zwar seine Geschichte, ich jedoch höre nur die Melodie seiner Stimme. So ein Ärger! Aber ich verspreche ihm und mir: ich komme wieder und dann verstehe ich ihn besser. Es hat gedauert, fast ein Jahr, bis ich den Bosporus wieder überquere, um in Beykoz nach ihm zu suchen. Ich schlängle mich zwischen Wahlautsprecherwagen und aufgebauten Zelten hindurch, weiche den Luftballon- und Wahlzettelverteilern aus, hin bis zur Moschee und ...



Ja, er ist da! So als wäre es erst gestern gewesen, sitzt er wie immer an "Lostra?" Schuhe putzen - fragt er freundlich. "Sonra." Später, antworte ich, suche im Smartphone und zeige ihm sein Foto aus dem vergangenen Jahr. Erst blickt er verwundert, doch dann strahlt er über das ganze Gesicht. "Hier, hier, das bin ich hier!" zeigt er stolz dem Nachbarn. "Ja und guck du hier ..." und er lächelt mich verschmitzt an.




Mehmet Bey öffnet seine Jacke, knöpft die Strickjacke auf und noch eine Jacke, und es erscheint das T-Shirt der Türkischen Nationalmannschaft.

"Jetzt mach ein Foto!" kommandiert er und setzt sich in Positur, so als habe er Sorge, dass man ihn ohne den Fussball nicht mehr erkennen könne.




Auf einmal schmilzt das vergangene Jahr in sich zusammen. Alles ist gleich. Sogar dieselbe Jacke. Doch nein, die Pappe mit den Fotos ist weg! "Wegen Regen" beruhigt er, "geht kaputt sonst." Dann nimmt er meine Stiefeletten, dreht sich noch einmal, ruft nach Tee für seinen "Gast" und beginnt sein Werk. Er cremt und putzt und wienert, bis sie wie neu sind, meine Schuhe.
Diesmal verstehe ich ihn, denn Selçuk ist mitgekommen und hilft mir. Mehmet Bey erzählt nun uns beiden seine Geschichte. 76 Jahre sei er alt und  zu Selçuk  "Kennst Du Jupp Derwall??" Doch da fällt ihm ein, Selçuk weiss ja gar nix von "seinem Galatasaray". Und er springt auf, um seine Pappe zu holen. Da erscheint unter seinem Stuhl - wie sollte es in Istanbul auch anders sein - eine winzige Katze. Sie guckt kurz und neugierig, lässt sich dann aber durch uns nicht weiter stören und kuschelt sich wieder an die Bürsten von Mehmet Bey. "Sie sitzt hier immer", sagt der Nachbar, "sie wohnt da".


"Hier, hier, ich hab sie!" – ruft Mehmet Bey strahlend und hält vorsichtig seine Pappe in den Händen, so als trage er einen Schatz. Und es ist auch sein Schatz. Wie lange hat er diese Bilder wohl schon so bei sich? Einige Fotos sind bereits vergilbt. "Hier!", und er deutet mit dem Finger auf eines der Bilder "Derwall!" Und "Hier! Wir alle zusammen! Ich auch!!"



Stimmt. Derwall mit Mehmet Bey in jungen Jahren oder eher umgekehrt.
Denn blickt man auf seine Papptafel mit all diesen "Größen", so erscheint eher Mehmet Bey in seiner vollen Größe durch die Zeit.



Und wieder beginnt er zu erzählen. "Ich bin immer da gewesen, immer, das war mein Leben" und deutet auf die Pappwand. "So haben sie mich kennengelernt, alle! Und ich habe sie auch kennengelernt, alle! Und sie haben mich eingeladen, zum Tee. Manche kommen bis heute  dann wenn sie wieder mal da sind, dann kommen sie zu mir. Ach! Weißt Du, Beykoz ist klein, und die Leute, die wissen von mir. So kann ich hier sein. In Tarabya - bei den feinen Leuten - da würde ich nicht mehr so arbeiten dürfen. Sie würden mich bestimmt wegschicken. Oder würde ich hier etwas anderes arbeiten, in einer Kneipe zum Beispiel, da würden sie mich doch sofort rausschmeissen wenn ich das erste Glas fallen liesse. Ich bin zu alt. Aber hier, hier habe ich meinen eigenen Platz. Ich kann arbeiten, wie ich will, und die Leute, die achten mich hier."

Wir blicken auf die vergilbten Fotos. Vorsichtig tippt Mehmet Bey auf die einzelnen Bilder. "Hier, kennst Du die noch?" schmunzelt er und schaut fragend auf Selçuk.



Und Selçuk kennt sie tatsächlich. "Na klar, das sind Tanju Çolak 'der Torkönig' und neben dir steht Rıdvan Dilmen genannt Seytan Rıdvan ‘der Teufel' und ...".  Da hat Selçuk bei ihm gewonnen. Er lehnt seinen Schatz aus Pappe vorsichtig an den Zaun der Moschee und will Selçuks Schuhe. Er löst die Schnürsenkel, greift in den Wachstopf und beginnt mit seinem Werk. Er putzt und redet und redet und putzt.



"Ein bis zwei Lira kann ich hier nehmen für das Schuhputzen. In Tarabya kriegt man sicher zehn Lira. Aber ich zahle ja keine Miete. Meine kleine Rente und das hier, das reicht. Mir geht es gut. 




"Nur mit meiner Schwester, die Geschichte, die macht mich traurig. Sie ist ja noch älter als ich. Und sie ist einfach nach Bodrum gefahren, zu ihrer Tochter. Nix hat sie gesagt, kein Auf Wiedersehen. Das ist doch traurig! 

Ich weiss ja gar nicht, ob sie nochmal kommt und ob ich sie nochmal wiedersehen werde. Und Geld, um sie zu besuchen? Nach Bodrum?! 
Dazu reicht es nicht."



Mehmet Bey bearbeitet Schuhe mit einer ganz besonderen Sorgfalt. Dabei vertraut er auch keinem Lappen, sondern nur seinen eigenen Händen. So spürt er besser, wo die Creme hinkommt und wo sie noch fehlt.



Als wir ihn zum Abschluss noch nach seinem ganzen Namen fragen, erklärt er, fast wie eine Entschuldigung:

"Ja, weisst Du, das ist so, ich, ich heiße ja Deniz. Aber das ist nur bei meiner Familie so. Alle anderen Verwandten heissen Özcan. Das hat mein Vater mal so gemacht. Er lebte auf 
Prens adaları, den Prinzeninseln, und da ist er einmal ins Wasser gefallen, von einem Boot wohl, glaube ich. Er musste lange schwimmen, um wieder an Land zu kommen. Und damals hat er gebetet, wenn ich hier wieder heil rauskomme, dann ändere ich meinen Namen. Ich werde dann Deniz heissen, denn 'deniz', das bedeutet 'das Meer'. Er wurde gerettet, damals. Und er hat es wirklich gemacht! 
Er hat seinen Namen geändert. Und so heissen wir heute Deniz und nicht mehr Özcan, wie sonst alle anderen von uns. Ja so ist das im Leben."





Nun sind auch Selçuks Schuhe blitzblank. Da steht Mehmet Bey auf, nimmt die Schnürsenkel und verschwindet. Ich blicke ihm nach. Er geht in den Vorhof der Moschee. "Das glaubst Du nicht, er wäscht sie!" staune ich laut.



Er kommt zurück, knetet den Rest des Wassers mit seinen Händen aus den Senkeln und zieht diese sorgfältig in die Schuhe wieder ein. Fertig! Ein herzliches "Auf Wiedersehen" und wir gehen. Aber ich werde wiederkommen und das nicht nur, weil meine Schuhe immer wieder schmutzig werden.