Der Tanz auf dem Vulkan - Wohin driftet die Türkei?

In den letzten Tagen überschlagen sich die Ereignisse. Innen- und Außenpolitik in der Türkei haben sich zu einem solch explosiven Gemenge vermischt, dass man von den Akteuren den Eindruck haben könnte: ‘Denn sie wissen nicht, was sie tun‘ (1). Die ganze Politikerriege der AKP vereint wie ein einziger ‘Jim Stark‘ aus Sorge um die Anerkennung bzw. den Zorn des Vaters bzw. des Möchtegern-Kalifen. Dabei ist es doch höchste Zeit, erwachsen zu werden und sich von diesem zu emanzipieren, um nicht noch größeren Schaden im Lande anzurichten, bzw. von ihm abzuwenden. „No-one should sacrifice Turkey for their own ends. The man sitting in the illegal palace is gambling with Turkey’s future“ warnt Kılıçdaroğlu am heutigen Tag erneut, wie bereits 2014 damals vor der Präsidentenwahl: „I call on my people: If you want war, if you want our children to be killed in wars in Middle East, go and vote for Erdoğan.“ (2)

Steuert das Land durch diese Hörigkeit der AKP-Riege in einen Krieg? Und vor allem auch, gegen wen? Nach türkischer Verfassung kann aber weder der Premier noch der Staatspräsident, sondern allein das Parlament über einen solchen entscheiden. Gut, dann nennt man es eben einfach nicht  ‘Krieg’ sondern ‘self defense‘ so wie Brett McGurk am 26.7.15 es tut. (3) Und dennoch, auch wenn es gegenwärtig keine amtierende Regierung gibt: Die ehemalige Opposition hat seit den Wahlen vom 17. Juni eine Mehrheit im Parlament. Wieso stoppt sie diesen Wahnsinn nicht einfach, egal ob er als ‘Krieg‘ oder als ‘Selbstverteidigung‘ etikettiert wird?b Offensichtlich ist diese Frage nicht mit Hilfe einer einfachen Logik zu beantworten.

Da wird das Hin- und Hergezerre um İncirlik auf einmal blitzartig beendet. Da ist die Türkei plötzlich ein ‘ehrlicher‘ Koalitionspartner im Kampf gegen ISIS. Eine Grenzsicherheitstruppe mit der Stärke von 70.000 Personen wird angekündigt. Ein Mauerbau ist geplant:



Da werden Angriffe gegen ISIS in den Nordirak und nach Syrien geflogen, mit dem Ziel einer ISIS-freien Zone, in der die ins Land geflohene syrische Bevölkerung dann später angesiedelt werden soll. Und sofort sind der Westen und die USA bereit, beim Koalitionswackelkandidaten nun Milde walten zu lassen angesichts dieser neu angekündigten und bereits begonnenen Taten. Hurra lobt da Deutschlands Verteidigungsministerin, Frau von der Leyen, endlich eine in der Koalition wieder ernstzunehmende Türkei, um sich am nächste Tag verwundert die Augen zu reiben, angesichts der Ergebnisse dieser Angriffe. Denn es sind überwiegend PKK Stellungen, die angegriffen wurden.



Und blickt man auf die Zahlen der verhafteten Personen im Inland – es wird von Hunderten gesprochen mit stetig steigender Anzahl – so werden lediglich ca. 30 davon als IS-Anhänger bezeichnet. Alle anderen seien Kurden, Linke oder Angehörige von Menschenrechtsorganisationen, so die Berichte. Eine willkürliche Verhaftungswelle ohne Strategie, hunderte von Personen so einfach einkassieren und festnehmen? Oder steckt da doch eine Strategie dahinter, nämlich einfach mitzunehmen und wegzusperren, was unbeliebt und unbequem und - verrückt - dazulassen was eigentlich gefährlich ist? Denn 8 der in Adıyaman festgenommenen IS-Angehörigen sind bereits wieder auf freiem Fuss.




Was passiert da? Will man staatlicherseits lediglich Angst und Terror verbreiten, um von den eigenen Unfähigkeiten abzulenken, oder ist es umgekehrt eher die Angst vor dem möglichen Ende der eigenen Macht, aufgrund des zunehmenden öffentlichen Bewusstseins der Veränderungen im Land aufgrund einer erstarkten und selbstbewussten demokratischen kurdischen Bewegung? 
Der Erfolg ist bereits sichtbar: eine gelähmte Masse, ängstlich vor dem Fernseher kauernd, das Alltagsgeschehen beobachtend ,in der Sorge vor einem Krieg auf der einen und auf der anderen Seite die Entladung der masslosen Wut über die sichtbare und gewollte Eskalation, die im Gegenzug wiederum von der Politik nutzbar gemacht wird, um die gelähmte Masse noch stiller als still werden zu lassen.

Es ist schwer, das alles zu durchschauen – obwohl es doch eigentlich so offensichtlich ist. Die Berichterstattung ist eine Aneinanderreihung von Ereignissen mit dem Versuch, das Ganze je nach politischer Coleur in die vorfindlichen Denkschablonen einzupassen. Reflexive und erklärende Texte sind spärlich. (4) Vielleicht ist es auch noch zu früh, um zu analysieren, wohin die Reise wirklich geht. 

Und beobachtet man die Meldungen aus den sozialen Netzwerken – unterstrichen von aktuellen und/oder aus dem Archiv herausgesuchten ‘aktuell passenden‘ alten Fotos – so begegnen einem Stimmungsbilder mit Eskalationsängsten bis hin zu Bürgerkriegsvorstellungen umrahmt von Ichhabsdochgewusstundschonimmergesagt Weisheiten. Kaum ein Beitrag ist frei von bewussten oder unbewussten subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen. Wie denn auch? Das Thema ist viel zu emotional besetzt und erscheint den Ereignisse nach zu urteilen wie der Tanz auf einem Vulkan. 
Und ich selbst weiss es ja auch nicht viel besser. Daher werde ich in den nächsten Tagen versuchen, Selçuk Salih Caydı zu erreichen, um mit ihm über die neuesten Geschehnisse sprechen, denn unser letztes Gespräch ist bereits 2 Monate her.


(1) Rebel Without a Cause, Film aus dem Jahr 1955
(2) Hurriyet Daily News 6.8.2014
(3) Deputy Special Presidential Envoy for the Global Counter ISIL im US Department of State
(4) Wohltuend heben sich hier die beiden Texte von Deniz Yüksel  http://linkis.com/www.welt.de/politik/SS824 und Michael Martens  http://www.faz.net/-hub-863id ab.